Eine fiktive Fallbeschreibung

Nun ist der Boden gelegt, auf dem sich ganz gut verstehen lässt, wie die körperorientierte Therapie wirkt. Das Ziel der Therapie ist völlig klar: Die Wiederherstellung der lebendigen Pulsation. Das ist allerdings leichter gesagt, als getan.

Anamnese

Angenommen, Melvin mit seinen neurotischen Symptomen sucht einen körperorientierten Therapeuten auf. Der Therapeut spricht mit Melvin über die Probleme, die ihn letztlich bewogen haben, therapeutische Hilfe zu suchen. Melvin kommt, weil seine mühsam errungene Lebensordnung, die er durch viele sinnlose Rituale absichert, zusammengebrochen ist. Die einzige Kellnerin, von der er ein Essen annimmt, weigert sich, ihm das Essen zu servieren. Sie weist ihn ab und sagt ihm, er sei ein krankes A... . Er ist gekränkt und sucht die Hilfe des Therapeuten, damit seine Lebensordnung wieder zusammenhält.

Er wird zunächst gar nicht darüber sprechen, dass er solch eine Angst vor Keimen hat, dass er beim Händewaschen jedes Mal eine neue Packung Seife öffnet. Er wird auch nicht darüber sprechen, dass er es vermeidet, auf die Fugen der Pflastersteine auf dem Gehsteig zu treten. Es ist ihm noch nicht bewusst, dass dies Symptome sind, die man behandeln kann.

Der Therapeut kann sich bereits im ersten Gespräch (Anamnesegespräch) einen Eindruck verschaffen, wie Melvin sich verhält. Er nimmt also nicht nur wahr, was Melvin sagt, sondern auch, wie er es sagt. Er beobachtet den Ausdruck seines Gesichts, seine Körperhaltung, wie er atmet, den Klang seiner Stimme, ob er gepresst spricht oder ob ein Unterton in seinen Aussagen durchklingt.

Die Panzerungsstruktur

Der Therapeut sieht, dass Melvins Bewegungen ruckartig sind, dass er sich bewegt, wie ein Roboter. Melvins Augen wirken verkniffen, das rechte Auge immer ein bisschen mehr, als das linke. Es wirkt so, als ob er alles auf eine große Distanz sehen müsste. Tatsächlich nimmt er in seiner gesamten Haltung eine sehr große Distanz zu seinen Mitmenschen ein.

Außerdem sieht der Therapeut, dass Melvin nicht wirklich lachen kann, sondern dass sich sein Gesicht zu einer Fratze verzieht, wenn er lacht. Er zeigt dabei die Zähne, als ob er andere Menschen damit abschrecken möchte. Sein Lachen zeigt einen Unterton sadistischer Freude.

Der Therapeut weiß, dass die sadistische Freude auf eine anale Fixierung hinweist, aber diese Erkenntnis wird er nicht mitteilen. Die Beobachtung bringt ihn jedoch dazu, Melvin einmal zu fragen, ob er sehr ordentlich ist. Melvin bestätigt dies. Wenn der Therapeut nun nachhakt, wird sich zeigen, dass Melvin es mit der Ordnung doch ziemlich übertreibt.

Nach einer Weile des Gesprächs bittet der Therapeut Melvin, sich zu entkleiden und auf die Couch zu legen. Er fordert ihn auf, tief zu atmen. Dies fällt Melvin sehr schwer. Der Grund dafür ist, dass sein gesamter Körper stark gepanzert ist. Während Melvin versucht, zu atmen, untersucht der Therapeut seine Panzerungsstruktur.

Er wird folgendes entdecken: Augen und Stirn sind verkniffen, die Kaumuskeln angespannt, die Atmung flach, das Zwerchfell und die Rückenstrecker sind angespannt, das Becken ist nach hinten gekippt, gleichzeitig sind die Oberschenkelmuskeln innen und hinten stark angespannt. Mit einem Druck auf die Brust während des Ausatmens kann der Therapeut feststellen, dass Melvins Brustmuskulatur ebenfalls angespannt ist.

Der Therapeut vergewissert sich, dass Melvins Panzerungsstruktur in keinem Segment eine nennenswerte Lücke aufweist. Dies ist wichtig für die Strategie der Behandlung, da sich somit ausschließen lässt, dass plötzlich auftretende Energieströme Emotionen verursachen, die Melvin nicht verkraften kann.

Atmung und Widerstand

Die tiefe Atmung regt den Fluss der Energie durch den Körper an, was zunächst einmal zu einem Hochgefühl führt. Aber dieses währt nicht lange, weil die Atmung die Pulsation wiederbelebt, und diese wiederum die Panzerung bedrängt. Damit gerät die Schutzfunktion der Panzerung in Gefahr.

Melvin wird Ausflüchte suchen, dass ihm schwindlig wird, dass es anstrengend ist, dass er befürchtet, mit der Atemluft Keime aufzunehmen. Hier ergibt sich eine weitere Chance für den Therapeuten, über die Angst Melvins vor Keimen zu erfahren. Gespräche, die sich auf solche Weise ergeben, lassen in Melvin langsam die Einsicht reifen, dass sein Händewaschen und seine seltsame Fortbewegung auf den Straßen Symptome einer psychischen Störung sind.

Der Therapeut wird ungeachtet der Widerstände Melvin anhalten, weiter vertieft zu atmen. Dabei treten die Blockierungen gegen die Emotionen noch klarer zum Vorschein. Diese zeigen dem Therapeuten, welche Emotionen unterdrückt werden. Zum Beispiel kann der Therapeut sehen, dass die angespannte Kiefermuskulatur den Ausdruck von Wut unterdrückt. Er wird Melvin daher auffordern, Wut zu zeigen.

Melvin ist zwar nicht sofort in der Lage, seine Wut zu zeigen, es ist aber wichtig für ihn, selbst zu spüren, dass er es nicht kann. Er spürt irgendwann, dass sein Verhalten gegenüber anderen Menschen damit zu tun hat, dass sich Wut zeigen will, diese aber abgewehrt wird. Er kann die Wut nicht zeigen, weil sich dahinter ein großer Schmerz verbirgt, vor dem er sich schützen will.

Melvin zeigt noch mehr Widerstandshandlungen, indem er zum Beispiel versucht, den Therapeuten zu verhöhnen. Der Therapeut wiederum arbeitet an der Muskulatur, die die Wut blockiert. Das tut er langsam und behutsam und in einer gewissen Ordnung. Man darf nicht vergessen, dass die Panzerung jahrelang einen Schutz gegen unerträgliche Affekte geboten hat. Eine zu schnelle Lösung der Blockaden würde den Klienten überfordern und dem Therapieziel entgegenwirken.

Systematische Arbeit am Panzer

Nach welcher Ordnung geht der Therapeut vor? Die Quelle der Pulsation, das energetische Zentrum des Menschen liegt im Becken. Von dort gehen die Energieströme und Emotionen aus. Der Therapeut beginnt also an dem Ende mit der Therapie, das am weitesten vom Becken entfernt ist: mit dem Augensegment. Eine andere Reihenfolge würde zu einer Verschärfung der Blockaden im Augensegment führen, bis hin zu einem Punkt, an dem der Klient durch Therapie nicht mehr erreichbar ist.

Die Augen tragen sehr stark zum emotionalen Ausdruck bei. Bei Melvin zeigt sich Wut, aber dahinter eine tiefe Verletzung. Nicht zu vergessen, die Angst vor der Ansteckung mit Keimen. Der Therapeut beginnt bei der Wut, weil sie in Melvins Schichtung der Emotionen oben liegt. Im Augensegment lässt er Melvin die Stirne und Augenbrauen bewegen. Immer wieder fordert er ihn auf, nachzuspüren, was das mit ihm macht.

Außerdem arbeitet er an der Beweglichkeit der Augen. Er lässt Melvin die Augen rollen und mit den Augen einen Finger oder eine Stablampe verfolgen. Nach einer Weile wird er die Muskulatur an Stirn und Kopf, sowie die Kaumuskeln schmerzhaft pressen. Melvin wird sich winden und wehren und auf mehrfache Aufforderung des Therapeuten irgendwann laut schreien.

Nach dieser Prozedur lässt der Therapeut Melvin wieder ruhig und tief atmen. Plötzlich stellt Melvin fest, dass er tiefer atmet als vorhin und dass sich sein Körper seltsam leicht anfühlt. Nach dieser Stunde wird sich Melvin denken: 'Das hat weh getan, aber am Ende tut es gut. Ich fühle mich erleichtert.' Er beschließt, weitere Sitzungen bei dem Therapeuten zu nehmen.

Fortschreiten in den Segmenten

Nach einer Weile sind seine Augen beweglicher und sein Gesicht kann bereits Wut ausdrücken. Doch seine Kehle fühlt sich sehr eng an. Der Therapeut fordert ihn auf, den Finger in den Mund zu stecken, so dass der Würgereflex ausgelöst wird. Nach dem Würgen fühlt Melvin sich etwas freier und kann tiefer atmen.

Vor den folgenden Sitzungen richtet Melvin sich sein Leben so ein, dass er spätestens zwei Stunden vor der Sitzung das letzte Mal etwas zu sich nimmt. In den Sitzungen arbeitet der Therapeut sehr viel mit dem Ausdruck des Mund- und Halssegments. Melvin wird angehalten, die Zunge herauszustrecken, die Kaumuskeln zu bewegen, zu schreien und den Würgereflex auszulösen.

In einer dieser Sitzungen überfällt Melvin eine seltsame Tumbheit. Er berichtet, dass überhaupt nichts mehr fühlen kann.

Der Therapeut fordert ihn auf, eine Weile tief zu atmen und dabei sanft sein Gesicht und die Augenbrauen zu bewegen. Und dann fängt Melvin plötzlich an, zu weinen. Sehr erleichtert und dankbar verlässt er die Stunde und geht gedankenverloren und mit einem Gefühl der Trauer nach Hause. Es beschäftigt ihn sehr, warum er plötzlich weinen musste. Als er zu Hause ankommt, stellt er fest, dass er beim Gehen überhaupt nicht darauf geachtet hat, die Stoßkanten der Pflastersteine zu meiden.

Der Ausdruck von Emotionen erleichtert ihn. Der Druck in seinem Innern lässt nach und daher lassen auch seine Symptome langsam nach - denn diese sind nur Ersatzhandlungen für das, was sich in ihm schon so lange zeigen will.

Sehnsucht nach Kontakt

Nachdem ihm in den folgenden Sitzungen immer wieder ein Schluchzen ausgekommen ist, fühlt sich Melvin eines Tages wieder sehr flach und tumb. Der Therapeut sieht, dass das Augensegment sich erneut verschlossen hat. Nach einigen Minuten der Arbeit an den Augen und der Stirn gelingt es, die emotionale Beweglichkeit dort wiederherzustellen.

Dafür aber entwickelt sich bei Melvin ein Druckgefühl in der oberen Brust und ein lähmendes Gefühl in den Armen. Der Therapeut lässt ihn tief atmen und nach oben in die Luft greifen. Nachdem Melvin eine Weile in die Luft greift, spitzen sich unversehens seine Lippen, seine Atmung wird tiefer und er fühlt eine tiefe Sehnsucht. Wieder fängt er an zu schluchzen, diesmal aber tiefer. Seine Brust ist am emotionalen Ausdruck beteiligt. Es kommen Tränen. Nach einer Weile hält er inne und sagt: Ich fühle mich so unendlich einsam. Daraus entspinnt sich ein Gespräch und am Ende des Gesprächs fasst Melvin einen Entschluss.

Nach der Therapiestunde geht er in sein Stammlokal und wartet auf "seine" Kellnerin. Als sie an seinen Tisch kommt, fragt er sie, wie es ihr geht. Und dann fragt er sie, wie es ihrem kranken Sohn geht. Sie stutzt, aber dann setzt sie sich zu ihm und erwidert: "Eigentlich habe ich gesagt, dass ich ihnen nie wieder ein Essen serviere, wenn Sie noch einmal meinen Sohn erwähnen. Aber irgendetwas an Ihnen ist anders geworden." Und dann erzählt sie, wie es ihrem Sohn geht und bringt ihm sein Essen.

Die Krankengeschichte ihres Sohnes berührt Melvin. Er hat genug Geld und beschließt, die Kellnerin zu unterstützen, so dass sie die medizinische Behandlung für ihren Sohn bezahlen kann. So zumindest geschah es im Film. Ich denke, dass genau solche Dinge passieren, wenn Menschen ihr Herzsegment öffnen. Sie werden berührbarer und folgen ihrer Sehnsucht nach Kontakt.

Vorstoß zu den tieferen Segmenten

Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Therapeut mit Melvin am Augen-, Mund-, Hals- und Brustsegment gearbeitet - von kurzen Ausflügen in tiefere Segmente zur allgemeinen Mobilisierung des Körpers einmal abgesehen. Jedes Mal, bevor sich eine Panzerung in einem bestimmten Segment lockert, stellt sich zunächst eine Abwehr dagegen ein und es müssen die höher liegenden Segmente gelockert werden - beginnend beim Augensegment. Sobald die höher liegenden Segmente gelockert sind, öffnet sich das nächste Segment.

Die Öffnung des Zwerchfellsegments setzt eine Menge Energie im Körper frei. Die Emotionen und Affekte, die Melvin in der Therapie zeigt, werden stärker und vertiefen sich, während sein Verhalten außerhalb der Therapiestunde weicher und durchlässiger wird. Er zeigt mehr Herz und Empathie und beginnt, Kontakt zu seinen Mitmenschen zu knüpfen.

Seine Symptome sind gänzlich verschwunden und auch seine Kellnerin findet ihn mittlerweile ganz nett. Aber er ist auch nicht mehr so ausschließlich auf sie angewiesen. Er ist fähig, nun auch in anderen Lokalen zu essen. Die rigide Ordnung, die vorher sein Leben bestimmt hat, weicht zunehmend Handlungen, die der gegenwärtigen Situation angemessen sind.

Obwohl seine Symptome sich so stark verbessert haben, spürt Melvin, dass da noch mehr drin ist. Er kommt weiterhin zu den Sitzungen. Dort wird das Bauchsegment gelockert und es beginnt die Arbeit am Becken. Mittlerweile hat er sich in die Kellnerin verliebt und sie beginnen eine Beziehung. Nach anfänglichen Hürden teilen die beiden auch ein Sexualleben miteinander.

Das Beckensegment

Doch plötzlich tauchen große Schwierigkeiten auf. Melvin klagt über Gefühllosigkeit im Becken und Genital. Sein Sexualleben kommt zum Erliegen. In den Therapiestunden gerät er immer wieder in Zustände panischer Angst, wobei er sehr stark seine Beckenmuskulatur zusammenzieht und die Beine überkreuzt. Der Therapeut klärt ihn darüber auf, dass dies zum typischen Verlauf der Therapie gehört und mit dem Lösen der Panzerung im Becken zu tun hat.

Durch spezielle Atemübungen und Bewegungen in den Beinen gelingt es, die Beckenpanzerung zu lockern. Dabei laufen Zuckungen durch den ganzen Körper, die lustvolle Schauer auslösen können. Diese Zustände wechseln sich mit Zuständen der Angst ab. Melvin erzählt viele Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend. Es sind schmerzhafte Details seiner Erziehung. Wenn er erzählt, weint er manchmal, und dann entwickelt sich wieder eine furchtbare Wut, die er auf der Couch ausagiert. Er geht durch Phasen von Angst und dann löst sich wieder alles in Lust auf.

Die Phasen der Lust werden immer häufiger. Seine Potenz kehrt zurück und er erlebt das Sexualleben mit seiner Freundin in einer nie gekannten Tiefe. Der Schwall von Erinnerungen aus der Kindheit ebbt ab und es wird Zeit, Melvin aus der Therapie in sein Leben zu entlassen.

Die Handlung dieser fiktiven Fallgeschichte weicht nun doch beträchtlich vom Film ab. Aber die Wandlung Melvins vom Kotzbrocken hin zu einem liebevollen Menschen hätte im richtigen Leben ohne therapeutische Hilfe wohl nicht so stattfinden können, wie im Film gezeigt.

-> Einige Erläuterungen