Was ist das Selbst?
Heikel an diesem Absatz ist auch der Begriff „Selbst“, der an dieser Stelle unvermittelt in das Buch purzelt. Bei diesem Begriff handelt es sich um eine philosophisch höchst komplizierte Angelegenheit – es wäre daher sinnvoll gewesen, den Begriff ein wenig zu unterfüttern, damit klar wird, was genau mit diesem Ziel gemeint ist, für das sich die Menschen so erschöpfen. Der Autor scheint das Problem zu ahnen, indem er schreibt:
Aber was bedeutet es, man selbst zu werden? Die Frage ist nicht so einfach, wie sie aussieht. Sie stellt uns vor schwierige Probleme der Grenzziehung: zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen, dem Möglichen und dem Unmöglichen, dem Normalen und dem Pathologischen. Die Psyche muss heute mit instabilen Beziehungen zwischen Schuld, Verantwortung und Geisteskrankheit umgehen.
Ich habe diesen Absatz bewusst vollständig zitiert, weil es tatsächlich alles ist, was uns der Autor zum Thema „Selbst“ liefert. Was nützt uns die These, dass sich Menschen auf der Suche nach dem Selbst bis in die Depression erschöpfen, wenn wir nicht genau wissen, was mit dem Selbst gemeint ist.
Nehmen wir zum Beispiel einmal folgendes Zitat des Physikers Hans-Peter Dürr über das Selbst:
Jetzt kommt man in die Schwierigkeit hinein, dass dieses Ich, oder manche nennen es Selbst, […] immer nur in der Einzahl da ist. Aber ich empfinde nicht die Einzahl. Als äußeres Ich, als Ego, bin ich ein Individuum unter vielen. Die Quantenmechanik suggeriert, wenn das Selbst wirklich das ist, was kein Gegenüber hat, dann ist es unteilbar. […] Dann kann es nur der Zusammenhang von allem sein.
Legte man diesen Begriff des Selbst der These Ehrenbergs zugrunde, würde die These Unsinn ergeben oder müsste zumindest in einen völlig neuen Kontext gesetzt werden, weil sie besagen würde, dass der moderne Mensch sich darin erschöpft, zu werden, was er schon ist.
Der geneigte Leser wird an dieser Stelle ahnen, worauf ich hinaus will, nämlich, dass das Gegenteil der Fall ist: Dass sich der moderne Mensch darin erschöpft, sich von dem zu entfernen, was er ist. Dann aber wären wir bei einem anderen Buch. Daran sieht man, wie wichtig es ist, vorab zu klären, was mit dem Begriff „Selbst“ gemeint ist.