Die gesellschaftliche Dimension der Depression
Das Problem des Buchs besteht darin, dass hier aus soziologischer Sicht ein Phänomen (Depression wird zur Massenerkrankung) dargestellt wird, das man nicht verstehen kann, ohne einen Bezug zur Gesellschaft herzustellen, in der es entsteht. Und dieser Bezug fehlt.
Mit diesem Bezug zur Gesellschaft meine ich so etwas wie die Entwicklung der Produktion hin zur Fließbandarbeit, in der die Menschen entfremdet und sinnentleert ihr Auskommen gefristet haben, was man mit Recht als eine der Ursachen für das sprunghafte Ansteigen der Depression in den Endsechzigern und Siebzigern betrachten könnte.
Der Autor versucht geradezu krampfhaft, die Aspekte der Produktion und Verteilung auszuklammern, die ihn in die Nähe marxistisch angehauchter Soziologen rücken würden. Doch es nützt ihm alles nichts, weil die FAZ dennoch die verblichenen roten Fahnen aufspürt:
Wenigstens wehen im Frankfurter Westend die ausgebleichten roten Fahnen noch…
Damit ist aber nicht der Autor gemeint, sondern die Herausgeber der „Reihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie“, in der sein Buch erschienen ist.
Es hätte seinem Buch gut getan, wenn er sich ein paar der Thesen seiner deutschen Herausgeber zu Eigen gemacht hätte. Dann hätte er die gesellschaftliche Dimension der Depression von der Warte her betrachtet, dass wir alles andere als Souveräne sind, dass unsere Gesellschaft von der Stumpfheit der Fließbandproduktion direkt in das Zeitalter der optimierten Produktivität der Projektarbeit gestolpert ist, ohne dass sich für die Menschen eine Aussicht auf Sinn darin ergeben hätte.
Er setzt in seiner Einleitung die Grundlagen für die kommenden Ausführungen, aber in den Grundlagen kommen die Begriffe Arbeitswelt und Sinn nicht vor, geschweige denn die deprimierenden Nachrichten, mit denen wir tagtäglich bombardiert werden, und die ebenfalls als Quelle der Depression in Betracht kommen.
Nachrichten, die deswegen entstehen, weil das „Heraustreten aus der Klassengesellschaft“ nichts anderes als ein Export der Arbeiterklasse nach China, Pakistan und Bangladesh war und sich die Industrieländer auf dem Rücken der Menschen dort eine Art Kleinbürgerparadies der Projektarbeiter geschaffen haben, das in Wirklichkeit eine Herrschaft des Konsums ist – eine Herrschaft, die durch Überwachung in einem Ausmaß abgesichert wird, das die Überwachung durch die Schreckensdiktaturen des letzten Jahrhunderts bei weitem übertrifft. Wenn man diese Entwicklung weiterdenkt, kommt man bei den Dystopien eines Philip K. Dick heraus, der sich bekanntlich das Leben nehmen wollte – was er in gewisser Weise auch geschafft hat.
Das Leben ist seit Kriegsende noch nie so eng gefasst gewesen, wie heute. Hatte unsere Generation noch einen gewissen Spielraum in der Gestaltung ihrer Lebensentwürfe, der von etwa 5-10% der Heranwachsenden auch genutzt worden ist, so ist das Leben der heutigen Jugend von der Kita bis ins Berufsleben völlig durchgeplant und aufgegleist. Die Gefahr, dass etwaige Abweichungen vom Gleis in den gesellschaftlichen Absturz führen, ist heute größer, denn je zuvor.
Kein Wunder, dass angesichts einer unausweichlichen Karriere als Massenmensch, als Rädchen im Getriebe globalisierter Konzerne der Wunsch nach Individualität und nach Erlangen einer Bedeutung in der Welt so groß ist.
Aber ein Original zu werden, hat seinen Preis – einen hohen Preis, den nicht jeder aufbringen kann. Und daher haben Ersatzbefriedigungen hohe Konjunktur. Die Menschen definieren sich über Karriere, Leistung, Konsum, doch sie finden keinen Sinn. Also noch mehr Karriere, Leistung, Konsum, bis zum Zusammenbruch. Das ist die Erschöpfung, um die es eigentlich geht, und hier sind wir bei den Ursachen, die in dem Buch von Ehrenberg leider nicht beschrieben sind.
Jetzt sind wir auf Seite 31 von 306 (ohne Literaturverzeichnis) und ich kann nur sagen: Da wird nichts mehr draus. Nicht aus dem Titel, nicht aus der These vom erschöpften Selbst. Wer Lust auf eine Geschichte des Bildes hat, das sich die Menschheit von der Depression gemacht hat, kann weiterlesen.