Gesellschaft und Depression
Da er eine „Aufklärung im politischen Sinn“ verspricht, gehe ich einmal auf die Suche nach Äußerungen über den Einfluss der Gesellschaft auf diese erschöpfende Suche nach dem Selbst. Zitat:
Mir geht es darum, die Konturen des zeitgenössischen Individuums nachzuzeichnen, das heißt des Typs von Person, der sich in dem Maße durchsetzt, wie wir aus der Klassengesellschaft heraustreten und die Art der politischen Repräsentation und der Verhaltensregulierung aufgeben, die damit verbunden war.
Der Autor konstatiert also das Ende der Klassengesellschaft.
Die 1960er Jahre haben die Vorurteile, Traditionen, Fesseln und Grenzen, die das Leben strukturierten, erschüttert. […] Wir sind im eigentlichen Sinne des Wortes emanzipiert: Das moderne politische Ideal, das aus dem gefügigen Untertan des Fürsten einen autonomen Bürger gemacht hat, hat sich auf alle Bereiche der Existenz ausgedehnt. Das souveräne Individuum, das nur sich selbst gleich ist und dessen Kommen Nietzsche angekündigt hat, bestimmt nun die übliche Lebensweise.
Der eigentliche Sinn des Wortes „emanzipiert“ bleibt dem Leser verschlossen. Was immer es bedeuten möge, es schält sich langsam heraus, dass der Autor einer großen Illusion aufsitzt, auf die ich gleich näher eingehen werde. Zunächst ein paar Sätze über die neue Souveränität, die die Menschen erlangt haben sollen:
Das Erdbeben der Emanzipation hat zunächst kollektiv die Psyche jedes Menschen erschüttert: Die demokratische Moderne – darin liegt ihre Größe – hat uns mehr und mehr zu Menschen ohne Führer gemacht, uns nach und nach in die Situation versetzt, für uns selbst zu entscheiden und unsere eigenen Orientierungen konstruieren zu müssen. Wir sind reine Individuen geworden, und zwar in dem Sinne, dass uns kein moralisches Gesetz und keine Tradition sagt, wer wir zu sein haben und wie wir uns verhalten müssen.
Beim Niederschreiben des Zitats könnte man ins Fremdschämen geraten. Ich weiß immer noch nicht recht, ob der Autor sich bewusst ist, was er da geschrieben hat. Das sind keine aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate, sondern eine Argumentationskette, die bei der Führerlosigkeit beginnt, über die Entwicklung einer Gesellschaft führt, in der nicht mehr der Gehorsam, sondern die Initiative im Mittelpunkt steht, und ohne Umschweife in die Überforderung mündet, als deren Konsequenz er die Depression versteht:
Die Begriffe Projekt, Motivation, Kommunikation bezeichnen heute die neuen Normen. […] Das ideale Individuum wird nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen, sondern an seiner Initiative.
Die Illusion, der der Autor aufsitzt, besteht darin, dass er Produktivität mit Initiative und Projektarbeit mit Souveränität verwechselt. Unsere Gesellschaft besteht zum Großteil eben nicht aus Menschen, die sich selbst verwirklichen, sondern aus solchen, die eine Arbeit verrichten, die ihnen andere auftragen.