Konfliktlösung vs. Reparatur
Vor dem Hintergrund der abgewandelten These von der Erschöpfung durch Kompensation gewinnt ein weiterer Aspekt des Buches Gewicht, den der Autor in folgenden Worten ausdrückt:
Für Freud ist der Kern der Neurose ein Konflikt, für Janet ist er ein Defizit.
Daher sieht er in Freuds Konzept auch einen Ansatz zur Heilung, der darin bestehe, dass das Subjekt den Konflikt löst, traumatische Erfahrungen integriert und so weiter.
Das Gegenkonzept dazu sei aus seiner Sicht das Defizit, das man mit Medikamenten repariert. Das Subjekt tritt dabei in den Hintergrund. Der Arzt verschreibt ein Medikament, das die Stimmung aufhellt und der Defekt gilt als „behoben“.
Ehrenberg sieht eine Entwicklung weg vom Freud’schen Standpunkt hin zu der Sichtweise, die seelische Befindlichkeiten als Defekt auffasst. Hier kommt dann wieder seine These ins Spiel, dass letztere Auffassung für eine Zeit steht, in der Menschen für ihr Handeln selbst verantwortlich sind, und daher die Schuld an ihrem psychischen Dilemma bei sich selbst suchen.
Hier könnte man entgegensetzen, dass die Geschichte vom Menschen als Schmied seines Glücks genauso illusionär ist, wie die Möglichkeit, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen. Es ist möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Stattdessen sehen sich die Menschen vielfachen Zwängen ausgesetzt, die sie nicht beeinflussen können und sich dadurch ohnmächtig und überfordert fühlen. Wieviel „Selbst“ ist an dieser Überforderung beteiligt? Woher stammen die Ideale, die Bilder, denen die Erschöpften entsprechen wollen?
Dass man heute statt der Konfliktlösung lieber die Reparatur sucht, könnte einfach auch daran liegen, dass die Krankenkassen die Konfliktlösung (sprich: eine Psychotherapie) nicht bezahlen, während die Reparatur (Medikation) bezahlt wird. Sie ist schlichtweg billiger, was in Ländern mit dürftiger gesetzlicher Krankenversorgung noch schwerer wiegt. Das wäre eine simple ökonomische Erklärung, für die man nicht die Individualisierung des modernen Menschen bemühen muss.
Mit der Medikation spart der Patient im Übrigen viel Zeit, die er nutzen kann, um seinen Kampf gegen den gesellschaftlichen Absturz weiterzuführen. Es mag vielleicht etwas pessimistisch klingen, wenn ich statt dem Wohlstand des Mittelstands nur den Kampf gegen den gesellschaftlichen Absturz in den Mittelpunkt rücke. Das liegt jedoch an der Situation, der die Menschen ausgesetzt sind, bei denen es tatsächlich zum Burnout kommt. Eine Heilung ist nur möglich, wenn sich die Betroffenen für Wochen oder gar Monate aus dem Arbeitsleben zurückziehen und in stationäre Behandlung begeben. Für viele Menschen in unserer Gesellschaft bedeutet das den Ruin.
Damit hätten wir eine andere oder zumindest zusätzliche Erklärung dafür, warum der Fokus auf der Reparatur von Defekten liegt, statt auf der Heilung des Subjekts durch Stärkung der Fähigkeit zur Konfliktlösung und Integration.*
Warum immer der Fokus sich verschoben hat, in einem hat Ehrenberg recht: Eine Gesellschaft, in der Spuren von Antidepressiva bereits im Grundwasser auftauchen, weil Millionen von Menschen davon abhängig sind, befindet sich in einem alarmierenden Zustand. Lasst die Diskussion darüber nicht mehr verstummen! ֎
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* An dieser Stelle möchte ich der Vollständigkeit halber noch an das Konzept der Prävention erinnern. Die Gesellschaft kann sich die adäquate Therapie der Burnout-Patienten tatsächlich nicht leisten, also sollten wir zusehen, dass es erst gar nicht dazu kommt. Und das bedeutet, dass es Firmen nicht erlaubt sein sollte, unter dem Deckmantel der Selbstverwirklichung auch noch das letzte Tröpfchen Lebenskraft aus ihren Mitarbeitern zu quetschen, um sie dann mit ihren Problemen alleine zu lassen.