Depression - das erschöpfte Selbst?

Auf dem Heiligenfeld-Kongress 2015 wurde von mehreren Referenten ein Buch in den Vordergrund gerückt, das mit einer sehr interessanten These aufwartet, nämlich, dass die enorme Ausbreitung der Depression eine Schwierigkeit des Menschen in der modernen Gesellschaft widerspiegelt: die Schwierigkeit der Aufgabe, sich selbst zu verwirklichen. Daher auch der Buchtitel „Das erschöpfte Selbst“.

Leider wird das Buch dem Titel nicht gerecht. Nichtsdestotrotz löst es eine Diskussion aus, die ich als sehr wertvoll empfinde. Das ist meine Motivation für diesen Artikel.

Wer das Buch liest, wird schnell feststellen, dass es eine Themaverfehlung ist. Das wird in der Einleitung vom Autor selbst deutlich gemacht. Dort stellt er nämlich klar, dass er im Buch eine Antwort auf zwei Fragen sucht:

  1. Warum und wie hat sich die Depression als die am meisten verbreitete psychische Störung durchgesetzt?
  2. In welchem Maße ist sie charakteristisch für die Veränderungen der Individualität zu Beginn des 21. Jahrhunderts?

Was tut der Autor, um diese Fragen zu beantworten? In seinen eigenen Worten:

Meine Methode besteht darin, die widersprüchlichen Argumente herauszuarbeiten, die das wissenschaftliche und populäre Bild der Depression geprägt haben. Die Absicht ist also Aufklärung in einem politischen Sinn. Sie zielt weniger auf eine wissenschaftliche Wahrheit als darauf, einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion zu liefern.

Die These, die im Titel des Buches angedeutet wird, ist also nicht Gegenstand des Buches, sondern soll mit einem Vehikel transportiert werden, einer Art Geschichte der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Depression:

Die Methode besteht in diesem Buch also darin, zu verstehen, wie Psychiater Probleme formulieren und welche Lösungen sie durch ihre Kontroversen entwickeln. […]

Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf eine Durchsicht der psychiatrischen, vorwiegend französischen Literatur ab den 1930er Jahren sowie auf angloamerikanische Arbeiten.

Weitere Publikationen, die der Autor untersuchte, umfassen La Revue du praticien, ein Organ zur Weiterbildung von Allgemeinmedizinern, sowie Magazine und Wochenzeitungen, wie Elle, Marie-Claire und L’Express:

So konnte ich Beziehungen zwischen drei Ebenen herstellen: den psychiatrie-internen Debatten, der Art des Expertentums, das die Psychiatrie der Allgemeinmedizin zur Verfügung stellt […] und der Art und Weise, in der die breite Masse mit einer Grammatik des inneren Lebens bekannt gemacht wurde. (Kursivstellung vom Autor)

Man kann also eine mehr oder minder kurzweilige Zusammenfassung über die Entwicklung des Begriffs der Depression erwarten und wird darin auch nicht enttäuscht. Wer aber glaubt, zum Titel des Buches tiefere Einsichten zu erhalten, erhält nicht mehr, als die These des Autors, die durch noch so häufige Wiederholung nicht an Substanz gewinnt. Ich greife einmal die erste Stelle, an der die These geäußert wird, heraus:

Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden.

Er beschreibt die Depression als

eine „Krankheit der Verantwortlichkeit“, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.

An dieser Stelle mag der eine oder andere Leser noch hoffen, dass der Absatz über das disziplinarische Modell etwas unglücklich formuliert ist und dass der Eindruck, die Depression als Massenphänomen entstünde daraus, dass Menschen nicht mehr autoritär geführt werden, sich bei weiterer Lektüre zerstreuen möge.

-> Was ist das Selbst?